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Israel: Tacheles reden in Haifa

Die Hafenstadt Haifa liegt im Norden Israels. Mit einem arabischen Bevölkerungsanteil von mehr als zehn Prozent zählt sie zu den sogenannten gemischten Städten. Das Zusammenleben ist kompliziert und vielschichtig. Mit Unterstützung des ZFD-Trägers forumZFD bringt das Kulturzentrum „Beit Ha'Gefen“ Israelis und Palästinenser*innen zusammen – eine Arbeit, für die das Team immer wieder angefeindet wird. Dabei sind solche Initiativen angesichts der angespannten politischen Lage wichtiger denn je.

In dem Album „Better than Berlin“ beschreiben der Pianist Faraj Suleiman und der Schriftsteller Majd Kayyal das bittersüße Gefühl, Haifa zu verlassen. Das Lied „Questions on my Mind“ ist bei arabischen Jugendlichen in vielen Ländern beliebt – seien es Palästinenser*innen in Jordanien oder die syrische Diaspora weltweit –, weil es die Sehnsucht nach zu Hause so gut einfängt. Der Erzähler des Liedes ist voller gemischter Gefühle: Berlin sei ja schön und gut, aber der Nachbarschaftsklatsch zu Hause sei nun einmal interessanter. Gleichzeitig drückt er seinen Unmut über die dortige Situation aus, wenn er an eine Freundin vor Ort gerichtet fragt:

„Schikaniert die Polizei immer noch jede Nacht die arabischen Jugendlichen? (...) Sind wir immer noch von Wut zerfressen? (...) Machen sie euch immer noch verrückt mit ihrem Gerede über Politik?“

Asaf Ron kennt solche negativen Assoziationen mit Haifa nur zu gut. Er ist der Direktor von „Beit Ha'Gefen“, einem jüdisch-arabischen Kulturzentrum, mit dem das forumZFD seit langem zusammenarbeitet. Er sagt: „Meine jüdischen Mitmenschen erzählen mir, wie überrascht sie seien, dass die Palästinenser*innen hier so wütend sind. Sie sagen, Haifa sei doch eine liberale Stadt, warum sollte jemand wütend sein? Aber ich als Jude antworte: Warum sind Sie so überrascht? Wo können die Menschen ihre Meinung äußern, wenn nicht in einer liberalen Stadt? Hier in Haifa haben die Palästinenser*innen zumindest einen gewissen Freiraum, um ihre Meinung zu sagen. Deshalb hören wir mehr von ihrer Wut. Natürlich sollte das nicht in Gewalt ausarten, aber das tut es meistens auch nicht.“ 

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Eine Stadt mit einem komplexen sozialen Gefüge

In Israel ist Haifa bekannt als die „Stadt der Koexistenz“. Der malerische Ort am Mittelmeer zählt rund 284.000 Einwohnende. Die überwiegende Mehrheit sind jüdische Israelis. Es leben aber auch rund 33.000 Palästinenserinnen und Palästinenser in Haifa. Mit diesem arabischen Bevölkerungsanteil von mehr als zehn Prozent zählt Haifa zu den sogenannten gemischten Städten.

Mit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 wurden auch aus Haifa etwa 65.000 palästinensische Menschen vertrieben. Im ganzen Land verloren Hunderttausende ihr Zuhause. Die Palästinenserinnen und Palästinenser gedenken dieser Tragödie als „Nakba“, was auf Arabisch Katastrophe bedeutet, während jüdische Israelis von ihrer „Unabhängigkeit“ sprechen. Den meisten Palästinenserinnen und Palästinensern wurde später die Rückkehr verwehrt, so dass sich die Bevölkerungsstruktur in Orten wie Haifa stark veränderte. Vor 1948 war Haifa ein Ort des Handels und der Vielfalt, eine moderne Stadt, die von einheimischen Araberinnen und Arabern und neu zugewanderten Jüdinnen und Juden gemeinsam aufgebaut wurde. Heute ist die arabische Bevölkerung in der Minderheit. Etwa die Hälfte ist christlich, die andere Hälfte muslimisch. Viele palästinensische Menschen haben angesehene Positionen inne und arbeiten im ärztlichen Dienst, im Finanzwesen oder als Künstlerinnen und Künstler. Und auch wenn nicht wenige arabische Familien in Armut leben, so ist die Armutsquote insgesamt doch niedriger als im Landesdurchschnitt.

Unter der vermeintlich stabilen Oberfläche verbergen sich jedoch komplexe Probleme. Diese anzugehen, hat sich das Kulturzentrum Beit Ha'Gefen auf die Fahnen geschrieben. Das Zentrum wurde 1963 gegründet, um den Dialog in der Stadt zu fördern und Brücken zwischen den Bevölkerungsgruppen zu bauen. Ein Beispiel ist das „Museum ohne Mauern“ in Wadi Nisnas: In dem arabischen Viertel hat Beit Ha'Gefen Straßenkunst angebracht, die zum Nachdenken einlädt. Das Zentrum verfügt auch über eine arabischsprachige Bibliothek und fördert lokale Autorinnen und Autoren von Kinderbüchern. Sogar ein Theater gehört dazu: Das „Al Karama“ zeigt ein Repertoire in arabischer Sprache.

Mit dieser Arbeit war das Zentrum schon immer Zielscheibe von Kritik und Anfeindungen. In jüngster Zeit haben diese jedoch eine neue Dimension erreicht. 2022 störten Dutzende rechtsgerichtete Aktivistinnen und Aktivisten eine Veranstaltung über palästinensische Kultur. „Das Geschrei und die Schikanen ... das war bei weitem nicht das erste Mal. Aber die Lautstärke war noch nie so hoch“, berichtet Asaf Ron.

Die Lage in Israel ist derzeit mehr als angespannt. Das Land erlebt eine massive Protestwelle gegen die Regierung von Benjamin Netanjahu und seinen rechtsextremen Koalitionspartnern. Aktivistinnen und Aktivisten und Minderheiten wappnen sich gegen mögliche Einschränkungen demokratischer Grundrechte, wie etwa der Unabhängigkeit der Justiz oder der Meinungsfreiheit. Es wird befürchtet, dass Initiativen wie Beit Ha'Gefen aus Angst vor Gegenreaktionen bestimmte Themen nicht mehr öffentlich ansprechen können. „Ich will nicht, dass wir anfangen, uns selbst zu zensieren. Aber ich hoffe sehr, dass wir das überstehen können“, sagt Ron. „Es wird schwer. Unser Ziel war es nie, zu provozieren, sondern einen Nutzen für die Gesellschaft zu bringen. Jüdische Bürgerinnen und Bürger beginnen nun mit Selbstzensur – ein Zustand, den Araberinnen und Araber bereits seit 70 Jahren erleben.“

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Unter die Oberfläche blicken

Asaf Ron leitet Beit Ha'Gefen nun schon seit zehn Jahren. Das Zentrum wird von der Stadtverwaltung mitfinanziert und ist als Bildungsträger anerkannt. Schülerinnen und Schüler können sich die Teilnahme an den außerschulischen Lernangeboten für ihren Abschluss anrechnen lassen. Das Team von Beit Ha'Gefen arbeitet eng mit Pädagoginnen und Pädagogen und Kunstschaffenden zusammen. Wer das Zentrum besucht, dem fallen direkt die vielen Kunstwerke auf, die überall im Haus zu sehen sind. Sarki Golani aus der Bildungsabteilung zeigt auf ein großes Bild mit einem Eisberg im Wasser. Das Werk des palästinensischen Künstlers Ashraf Fawakhry sei ein Hologramm, erklärt sie: Je nachdem, aus welcher Perspektive man das Bild betrachtet, verändert es sich. So wird sichtbar, was zuvor unter der Wasseroberfläche verborgen war. Eine treffende Metapher für die Arbeit von Beit Ha'Gefen, meint Golani: „Wir versuchen, den Wasserspiegel zu senken. So lernt man, Menschen zu schätzen, für die man vorher keine Wertschätzung übrighatte.“

„Der Konflikt fühlt sich sehr existenziell an“

Ein  Aushängeschild von Beit Ha'Gefen ist der Jugendclub „Tacheles“. Das jiddische Wort bedeutet so viel wie Klartext – ein treffender Name für das Projekt, das darauf abzielt, jüdische und arabische Jugendliche über die Themen ins Gespräch zu bringen, die ihnen unter den Nägeln brennen. Asaf Ron betont jedoch, dass zuerst eine Grundlage geschaffen werden müsse: „Begegnungen, die nicht professionell vorbereitet werden, schaden eher, als dass sie nützen. Der Konflikt hier fühlt sich sehr existenziell an: Wenn du nicht im Recht bist, steht deine gesamte Existenz in Frage. Du hast also keine Zeit zum Zuhören. Du musst recht haben. Und das bedeutet, dass die anderen unrecht haben.“ Um diese Denkmuster aufzubrechen, brauche es eine sorgfältige und einfühlsame Begleitung aller Begegnungen.

Es werde immer schwieriger, jüdische Kinder für den Jugendclub zu gewinnen, berichtet Asaf Ron. Er und sein Team führen dies auf die politischen Veränderungen im Land zurück, aber nicht nur. „Jüdische Schülerinnen und Schüler haben im Allgemeinen mehr Möglichkeiten für außerschulische Aktivitäten. Außerdem kommen viele von ihnen aus weiter entfernten Stadtteilen. Das macht es für uns schwieriger, sie hierher zu bekommen“, sagt Shani Goldman, die die Jugendgruppe koordiniert.

Dabei hat Beit Ha'Gefen den Jugendlichen viel zu bieten – bis hin zu internationalen Austauschen. Hierfür sucht das Team stets auch neue Partner. Letztes Jahr organisierte das Zentrum zum Beispiel eine einwöchige Reise für rund 15 Jugendliche nach Ungarn. Vor kurzem folgte dann der Gegenbesuch in Haifa. Das schweißte die Gruppe zusammen – denn plötzlich fanden sich die so unterschiedlichen Jugendlichen gemeinsam in der Rolle der Gastgeberinnen und Gastgeber für ihre Altersgenossinnen und -genossen aus Ungarn wieder. Begeistert zeigten sie ihnen ihre Stadt und die lokale Kultur.

Besuch bei einem Imam und einer Rabbinerin

Auf dem Programm stand unter anderem ein Besuch in der al-Jarina Moschee. Der Imam, Rashad Abu el Hajj, erklärte den Jugendlichen die Geschichte des Gebäudes aus dem 18. Jahrhundert und die Grundsätze des Islams. Dabei betonte er auch, wie wichtig der Dialog mit anderen Religionsgemeinschaften sei. Wenn beispielsweise das islamische Opferfest auf denselben Tag falle wie Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag, sei es wichtig, dies zu thematisieren. Schließlich sei das Opferfest für muslimische Gläubige ein Tag zum Feiern, während Jom Kippur im Judentum ein Tag der Buße und Enthaltsamkeit sei. Um Konflikte zu vermeiden, hätten die Rabbiner in ihren Gemeinden die Bedeutung des Opferfestes erklärt, erzählte Rashad Abu el Hajj. Und die Imame hätten ihrerseits mit ihren Gemeinden über alternative Routen für den Tag gesprochen. Ein praktisches Beispiel dafür, wie die Bedürfnisse verschiedener Religionsgemeinschaften in Einklang gebracht werden können.

Asaf Ron: „Mit dem Jugendclub wollen wir erreichen, dass sich die Teilnehmenden kennenlernen. Und wenn dann etwas passiert, sprechen sie darüber. Wir versuchen nicht, sie zu irgendeiner Verständigung zu drängen. Sie müssen zuhören. Sie müssen verstehen, wer die anderen sind und was sie bewegt. Sie müssen die Standpunkte, den Schmerz und die Ängste jedes Einzelnen verstehen. Das ist es, was die Welt verändert. Nicht, dass sie sich morgen über die Grenze einig sind.“


Dieser Text ist zuerst auf der Website des forumZFD erschienen. Die Fotos zeigen den Jugendclub Tacheles (oben, Foto: Danielle A. Ferreira), Kunst- und Kulturgegenstände, die überall im Haus zu sehen sind, (Mitte, Foto: Noa Shalom) und Asaf Ron und Sarki Golani vom Beit Ha'Gefen (unten, Foto: Beit Ha'Gefen).

Mehr über die Arbeit in Israel und den Palästinensischen Gebieten erfahren Sie auch in unserer Projektdatenbank. Mehr zur Arbeit von „Beit Ha'Gefen“ lesen Sie auf der Homepage des Kulturzentrums